Katertag Auswahlliste DJLP 2012
Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?
Regina Dürig
110 S.,Chicken House im Carlsen Verlag, 2011
Nico schreibt seinem Vater einen langen Brief, in dem der berichtet, wie sich für ihn alles dargestellt hat. Vom „ersten Anzeichen“ bis zur völligen Katastrophe. Wie sich für seine Mutter, seine Schwester Sasa und ihn selbst ihr Vater in den „Eunk“ verwandelt, in einen zunehmend unglücklichen und in seiner Sucht gefangenen Alkoholiker, der nach und nach alles zerstört, was im einst lieb und wichtig war. Der lügt, verspricht und wieder rückfällig wird, der verletzt und versetzt. All das mit Nicos nüchternen Beobachtungen versehen und letztendlich als wichtige Botschaft an den gebracht, den es angeht. Nur über die Auseinander-setzung ist das Verzeihen möglich, das zeigt dieses mutige und anschauliche Buch über den Umgang mit der Sucht und ihren Folgen. J.P.S.
forbidden Auswahlliste DJLP 2012
Tabitha Suzuma
Deutsch von Bernadette Ott
446 S.
Oetinger Verlag 2011
Lochan und Maya sind die zwei älteren Geschwister Kit, Tiffin und Willa die jüngeren. Mit unglaublichem Engagement versuchen Lochan und Maya, neben der Schule die Familie zu organisieren und zusammen zu halten. Die Mutter aller fünf Kinder ist zunehmend dem Alkohol und ihren häufig wechselnden Lovern zugeneigt, und lädt die Verantwortung bei ihren Ältesten ab. Als sie dann auch noch ständig abwesend ist, steigt der Druck noch: wenn Schule oder Jugendamt davon erführen, würden die Geschwister mit Sicherheit getrennt und auf verschiedene Heime oder Pflegefamilien verteilt. Das ist der worst case. Maya und Lochan ackern Tag und Nacht, versuchen die Schule und die familiäre Dauerbelastung unter einen Hut zu bringen und stellen zu allem Überfluss dann auch noch fest, dass sie unsterblich in einander verliebt sind. Ein schrecklicher und gleichzeitig unglaublich tröstender Streich des Schicksals: hieraus beziehen die beiden ihre unglaubliche Kraft aber hier droht auch die größte Gefahr: eine Liebe, die nicht sein darf ...Suzuma erzählt diese dichte und intensive Geschichte, die Inzest als eines der letzten gesellschaftlichen Tabus thematisiert, und die Leser leiden mit... J.P.S.
Der Märchenerzähler Auswahlliste DJLP 2012
Antonia Michaelis
446 S.
Oetinger Verlag 2011
Nicht mehr lang bis zum Abitur, da verlangt die Schule viel Aufmerksam-keit. Auch von der 17 jährigen Anna, die sich jedoch gerade ziemlich von ihren Altersgenossen distanziert, denn Anna interessiert sich für Abel aus derselben Jahrgangsstufe. Abel ist Pole und an der Schule für Drogen zuständig, aber als liebevoller Bruder der siebenjährigen Micha gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Denn je mehr sich Anna für ihn und seine Schwester interessiert, umso mehr wird sie Zeugin von Abels Überforderung, seinem Kampf gegen Behörden und existenzielle Not sowie seiner Ausgrenzung durch die durchweg besser gestellten MitschülerInnen. Abels eigentliches Talent aber besteht im Erzählen, und dem Bann seines Märchens, dass er für seine Schwester in Fortsetzungs-manier erzählt, erliegt auch Anna sehr schnell. Michaelis gelingt es in diesem Buch, ihre sehr dichte und poetische Sprache mit der gesellschaft-lichen Realität Armut so zu verknüpfen, dass es am Ende als ein packender Krimi in Märchengestalt daher kommt, dessen Wirkung man sich nicht leicht entziehen kann. Im Osten Deutschlands angesiedelt wird hier ein Adoleszens-Drama mit beklemmender Realität und der ganzen Kraft jugendlicher Romantik erzählt, nur unterbrochen von Texten von Leonard Cohen die dieses Lebensgefühl perfekt wiedergeben. J.P.S.
Es war einmal Indianerland Auswahlliste DJLP 2012
Nils Mohl
348 S., rowohlt Paperback 2011
Kein Zweifel, der Mann kann schreiben. Es war einmal Indianerland ist ein spannender Roman über das Erwachsenwerden, über Underdogs und über die Verwirrung des ersten Sex. Ein 17jähriger aus einer der anonymen Stadtrandsiedlungen lernt ein Mädchen aus dem Großbürgertum kennen, eine andere junge Frau stellt ihm nach und sein Vater bringt seine zweite Ehefrau um.
Hier beginnt das Problem. Man kann es mit der Formel ´Less is more´ zusammenfassen.
Erzählt wird die Geschichte in einer Art Vor- und Rückspulmodus. Scheinbar beliebig springt die Handlung vor und zurück, immer werden nur kurze Szenen beleuchtet, die sich im weiteren Verlauf verdichten. Diese kurzen Bilder sind spannend erzählt, sodass sich die Geschichte wie ein Puzzle allmählich zusammensetzt. Zum Ende der Geschichte wird diese Technik aber übertrieben. Ständig springt die Handlung in immer kürzeren Abständen und der Autor scheint am Ende vom selbst entfesselten Wirbel mitgerissen zu werden.
Das Thema des Vaters, der seine Frau tötet, kommt mir wenig aufschlussreich vor und konkurriert eher mit dem restlichen Plot. Glaubhaft ist dagegen die Verstrickung des Erzählers in zwei Liebesaffären. Zum einen ist da Jackie, das reiche, schöne Mädchen, angeödet von der upper class, die ihren Underdog vor allem deshalb so anziehend findet, weil er eben ein Underdog ist. Für ihn verkörpert sie alles, was sexy ist, ihr rotes Haar, ihre weiche Haut... und ihre Selbstsicherheit. Und dann ist da Edda, die junge Frau aus der Videothek. Edda ist der Gegenentwurf zu Jackie, weniger femme fatale, weniger selbst-, aber dafür wirklich in den Jungen verliebt. Sie erträgt seine Widersprüchlichkeit, die für sie durchaus schmerzhaft ist. Und erst zuletzt, am Wochenende des Festivals und des Powwows wird ihm klar, welche Beziehung tragfähig ist.
Gut gefällt mir die bildreiche, originelle Sprache. Auch die Verdeutlichung der inneren Handlung im äußeren Geschehen, wie etwa die packende Schilderung der Sturmfront, die über das Festivalgelände hinwegfegt, finde ich sehr gelungen. Sie gibt dem Roman einen eigenen Geschmack.
Zuletzt sei noch die geschickte Darstellung des Protagonisten genannt. Lange wird dem Leser nahegelegt, dass es einen Ich-Erzähler und dessen Kumpel Mauser gibt, die in einer engen Beziehung zueinander stehen. Mauser ist ein talentierter Boxer mit klaren Grundsätzen. Er wirkt in seinen Handlungen reifer als der Erzähler. Erst allmählich wird klar, dass die beiden ein und dieselbe Person sind. Erst als der besonnene Mauser sein Alter ego akzeptiert, kann sich der junge Mann zwischen Spiel (Jackie) und Verantwortung (Edda) entscheiden. M.S.
Als gäbe es einen Himmel Auswahlliste DJLP 2012
Els Beerten
übersetzt von Mirjam Pressler
614 S. , FJB, Fischer Verlag 2011
Es macht Mühe, diesen Roman wieder aus der Hand zu legen, weil er tatsächlich von Anfang bis Ende fesselt. Und am Ende bleibt man zurück mit einem Gefühl von gemeinsam Erlebtem, von mit den Protagonisten geteilter Zeit- mehr kann ein Roman nicht erreichen!
Drei Geschwister und ihr gemeinsamer Freund geraten gemeinsam mit ihren Familien in dem flämischen Ort Hasselt unter den zunehmenden Terror der Nazis. Gleichzeitig wird auch in Flandern massiv um Freiwillige geworben- mit offener Unterstützung der katholischen Kirche. Jefs Vater verbietet seinem Sohn auch nur daran zu denken, die Deutschen zu unterstützen, ganz egal, was der Pfarrer sagt. Aber Jefs bester Freund Ward, ein smarter Junge und hervorragender Saxofonist, außerdem der Liebste von Jefs Schwester Renée, lässt sich nicht aufhalten, nicht mal von Renée. Und Remi, der Jüngste, muss wohl für immer warten dass Ward ihm das Saxofonspielen beibringt...Els Beerten erzählt aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der 4 Protagonisten, während die Handlung spannungsreich und leichtfüßig zwischen den Zeiten und Figuren wechselt.
Dabei wird so eindrücklich von Konflikten zwischen Freundschaft und Leidenschaft, Feigheit und Loyalität, Politik und Kirche, Familie und Eigenständigkeit erzählt, dass es wohl keinen Leser kalt lassen kann.
Die Brutalität des Krieges wird schonungslos als die Gewalt gezeigt,
die aus Menschen mit Hunger, Angst und Hass verzweifelte und rücksichtslose Wesen machen kann - ein wunderbares und wichtiges Buch für alle, die im Frieden leben dürfen. jps
iBoy Auswahlliste DJLP 2012
Kevin Brooks
aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
297 S. , dtv Premium 2012
Tom lebt mit seiner ketterauchenden Großmutter in einem Londoner Viertel, das von rivalisierenden Gangs und deren brutalen Auseinander-setzungen beherrscht wird. Eines Tages wird Toms Freundin Lucy
überfallen und vergewaltigt, als Tom, gerade auf dem Weg zu Lucy, von einem Iphone getroffen wird, dass die Gangster aus dem 30. Stockwerk
auf ihn herabsausen lassen. Nach 17 Tagen erwacht Tom aus dem Koma und stellt fest, dass die in sein Hirn eingedrungenen Iphone-Reste, die nicht operativ entfernt werden konnten, ihm Zugang zu allen funkwellen- gestützten Daten verschafft, einschließlich dem Internet und dem Handy-Netz. In seiner unbändigen Wut gegen die Personen, die an Lucys Vergewaltigung beteiligt waren, nimmt Tom mithilfe seiner neuen Superkräfte Strafverfolgung und Bestrafung selbst in die Hand.
Wie immer schafft es Brooks, hochspannende Plots über ethisches Handeln zu schreiben. Trotz großer Nähe zum Fantastischen wird er nie unglaubwürdig. So ist der Leser gefordert, eigene Moralvorstellungen zu überprüfen und trotz Empathie und Identifikation die Grenzen zwischen Rache und Gerechtigkeit auszuloten. j.p.-s.
Die Zeit der Wunder Auswahlliste DJLP 2012
Anne-Laure Bondoux,
aus dem Französischen von Maya von Vogel
189 S. Carlsen Verlag 2011
Ein zwölfjähriger Junge wird an der französischen Grenze aufgegriffen, die er in einem Viehtransporter in Richtung Frankreich überqueren wollte.
Er ist allein und kann nur einen einzigen Satz Französisch in dem er behauptet, französischer Staatsbürger zu sein. In Rückblenden erzählt der nun inzwischen erwachsenen Protagonist von der abenteuerlichen Flucht mit seiner Ziehmutter Gloria aus den Kriegsgebieten des Kaukasus, von seinem Ideal Frankreich (dem Land der Menschenrechte) und von den Versuchen, seine Mutter in Frankreich ausfindig zu machen.
Erst nach und nach, unter anderem im Gespräch mit dem russischen Dolmetscher, versteht sowohl der Ich-Erzähler als auch der Leser von der Komplexität seiner ganzen Geschichte, die geprägt ist von Kriegen, Unruhen und Flucht. Und immer wieder erinnert er sich an Glorias Lektionen, von denen die Wichtigste war, sich nicht von der Verzweiflung auffressen zu lassen...
Ein wundervolles Buch über ein Flüchtlingsschicksal, das viel zum Verständnis solcher Lebensumstände beiträgt, und das man bedenkenlos mehrmals lesen kann! J.P.-S.
Kopfschuss Auswahlliste DJLP 2012
Susan Vaught,
aus dem Amerikanischen Engl. von Ann Lecker- Chewiwi
380 S. cbt 2011
Jersey Hatch überlebt seinen Selbstmordversuch - gleichzeitig das Schlimmste, was er sich vorstellen kann aber auch eine Chance...
Mit seinem Erinnerungsbuch, einer halbseitigen Lähmung, großen Gedächtnislücken und Sprachstörungen kann der inzwischen 17 Jährige die Reha verlassen. Wie wird es sein, wieder nach Hause zu kommen? Immer wieder zweifelnd und doch zielstrebig begibt sich der Protagonist auf eine Spurensuche nach sich selbst: was war damals geschehen? Was hatte ihn veranlasst, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen? Das Leben außerhalb der Klinik bringt noch eine andere Herausforderung mit sich:
den Kontakt mit den Menschen, die ihn lieben, die verunsichert sind, wie sie mit ihm umgehen sollen, die verletzt oder verstört sind.
Auf mitreißende Art beschreibt Vaught das „neue“ Leben des jetzt behinderten Jersey. Mit ungeheurem Einfühlungsvermögen in seine Erlebniswelt bereichert die Autorin unsere Wahrnehmung und zeigt auf,
wie eine Mischung aus Überdruss und Perfektionismus zum Selbstmord-versuch führen kann.
Mit den im Anhang zusammen gestellten Informationen zu Suizid-gefährung von ersten Anzeichen bis hin zu Anlaufstellen für Betroffene und deren Familien und Freunde hilft Vaught zudem, sich einem schwierigen Thema zu nähern. J.P.-S.
Tschick
Wolfgang Herrndorf
254 S.
Rowohlt Verlag
Auswahlliste DJLP 2011
Als ich Tschick zuende gelesen
hatte, ging es erst mal rund in meinem Kopf. War das nicht alles ein
bisschen konstruiert? Naja, vielleicht! Sprechen 14jährige Jungs so?
Ja schon! Aber bringen sie ihre Gedanken und Beobachtungen so zum
Aus-druck? Nein, ganz bestimmt nicht! Kann man wirklich auf einer
Müllkippe so ein ge-scheites Rotzgör wie Isa treffen, kann man sich in
diesem Land renitente Rentner vorstellen, die sich weigern, ihre
Häuser zu verlassen und scharf schießen wie Billy the Kid und und
und...
Es rumorte und als es aufhörte zu rumoren, dachte ich:
ein schönes Buch. Ein gelun-genes Buch!
Zwei Jungs, verschieden
von Herkunft und gesellschaftlichem Hintergrund, werden Freunde. Aber
‚Freunde werden’ hat etwas Ungreifbares, so wie Eltern werden. Wenn
man die Geschichte liest, erlebt man die atemberaubende Determination
eines Außenseiters, der sich einen Freund nimmt. Und mit der
Zielsicherheit eines Außen-seiters erwischt er einen Freund für´s
Leben.
Tschick, der russische Spätaussiedler, der nichtmals
ansatzweise wie ein Deutsch-russe daherkommt, eher wie ein versoffener
Mongole, mit einer Familie, die eigent-lich nicht existiert und Maik,
das Söhnchen aus Marzahn, das Vater-Mutter-Sohn-Kind, der eigentlich
ein
Vater(Freundin)-Mutter(Alkohol)-Achlecktmichdochalle-Be-rufspubertierer
ist, dessen Selbstbild darum kreist, der langweiligste Langweiler der
Welt zu sein. Diese beiden, die nichts eint außer ihrem
Außenseitertum, die beide zu schräg, zu asi oder eben zu langweilig
sind, um auf die Sommernachtgeburtstagspar-ty des begehrtesten Mädchen
der Klasse eingeladen zu werden, schließen sich zu-sammen zu einem
Duo, wie es seit Bonny und Clyde, Sherlock Holmes und Dr. Watson oder
Tim und Struppi nicht mehr zu sehen war. Aber vor allem erinnern sie
an zwei berühmte, andere Jungen: Tom Sawyers und Huckleberry Finn. Und
wie Wolfgang Herrndorf es schafft, dieses Ole-Man-River-Gefühl auf die
deutsche Provinz zu übertragen, das ist einfach zauberhaft.
Allen Unebenheiten zum Trotz ist dieses Buch eine Hommage an die
Freundschaft, eine Bekenntnis dazu, dass Unterschiede bereichern
können statt zu entzweien und zudem ein anrührendes und kluges Buch
über das, was Truman Capote ‚die wunderbaren Jahre’ nannte. MS
Numbers
Rachel Ward
364 S.
Chickenhouse im Carlsen Verlag
(Auswahlliste 2011)
Diese Geschichte geht unter die
Haut. Jem erfährt mit sieben Jahren, am Todestag ihrer Mutter, dass
sie die besondere Gabe hat, das Todesdatum jedes einzelnen Menschen in
dessen Augen sehen zu können.
Mehr Fluch als Gabe, findet Jem,
denn sie zieht sich immer mehr zurück. Jem lebt bei schon lange bei
Pflegefamilien, will diese ungeheuerliche Belastung nicht und geht
daher keine Beziehungen ein. Doch als Jem 16 ist, taucht der schwarze
Jugendliche Spinne in ihrem Leben auf und heftet sich an Jems Fersen.
Spinne lebt bei seiner Großmutter, die erkennt augenblicklich, das Jem
eine besondere Gabe hat. Zum ersten Mal will Jem tatsächlich Zeit und
Nähe mit Spinne teilen, aber natürlich wird in kürzester Zeit alles
höllisch kompliziert... Ein Atemberaubender Jugendroman jps
Runaway
Oscar Hijuelos
350 S.
Fischer Blaue Band-Reihe
(Auswahlliste 2011)
Im New York der 1960er Jahre
versucht sich Rico, Sohn kubanischer Eltern zwischen Banden, Drogen
und seinen strengen Eltern zurecht zu finden. Ricos größte Probleme
sins seine geringen spanischen Sprachkenntnisse und seine extrem helle
Hautfarbe, damit hat man in Harlem einen schweren Stand. Gut dass es
Gilberto gibt, der ist 3 Jahre älter als Rico und „richtig“ schwarz,
mit einem riesigen Afro und immer gut drauf. Mit einem Lotto-Gewinn
setzt sich Gilberto eines Tages nach Wisconsin ab, um dort eine
Landkommune zu gründen. Als dann auch noch Ricos bester Kumpel Jimmy
drogenabhängig wird und im Rausch einen schweren Unfall hat, hält Rico
den Zeitpunkt für gekommen: er schnappt den gerade mal nüchternen
Jimmy und macht sich mit ihm auf den Weg zu Gilberto aufs Land. Aber
natürlich haben sich die Probleme nicht abhängen lassen: auch hier
gibt es Rassismus und Vorurteile, Jimmy kann weiterhin nicht von den
Drogen lassen und Rico kommt für sich selbst auch nicht voran. So
fasst er am Ende den Entschluss, wieder nach New York zurück zu
kehren. Sein Lieblingsbuch Huckleberry Finn begleitet nicht nur die
gesamte Reise, es ist auch der Fixstern zur Orientierung: Rico will
Schriftsteller werden. Ein tolles Buch, spannend und mitreißend! Jps
Town-Irgendwo in Australien James Roy
287 S.
Gerstenberg
Verlag
(Auswahlliste 2011)
Australien war für
Europäer schon immer ein Kontinent mit magischer Anzieh-ungskraft. Mit
„Town“ lernen wir jetzt eine stinknormale Kleinstadt kennen, in der
stinknormale Jugendliche abhängen, mit Langeweile kämpfen und ganz
durchschnittliche Jugendlichen-Probleme haben. Natürlich kann es auch
hier passieren, dass es einem zu eng, zu langweilig und zu normal
wird, wie überall woanders auch.
James Roy stellt uns in
seinem Roman 12 Jugendliche vor, für jeden Monat eine/n. Was sich
zuerst wie eine Sammlung einzelner Kurzgeschichten liest, wird nach
und nach zum Portrait einer Gruppe. Alle Personen stehen auf
unterschied-lichste Art und Weise miteinander in Beziehung und
verleihen sich so gegensei-tig immer stärker Profil und Tiefenschäfe.
Randbemerkungen aus der einen Geschichte werden zum Leitmotiv in einer
Anderen, Personen, aus verschiedenen Perspektiven geschildert, sind
fast nicht wieder zu erkennen. Eine unterschied-liche Typografie sorgt
für das Unterscheiden der verschiedenen Kapitel. Die Stimmungen, in
die der Leser entführt wird, changieren zwischen Beklemmung und
Erwartung. Alles zusammen macht dieses Buch zu einem Leseerlebnis, aus
dem schnell ein Schreiberlebnis werden könnte; solche eine
Konstruktion bietet sich für eine Gruppe als Schreibwerkstatt geradezu
an! Jps
Zusammen allein
Karin Bruder
271 S.
dtv Reihe Hanser
(Auswahlliste 2011)
Verlassenwerden ist die Urangst
jedes Kindes. Hier gibt es noch einen Nach-schlag davon: Agnes ist 15
und lebt in Rumänien, als nach dem Vater auch die Mutter in den Westen
abhaut. Agnes soll bei ihrer Tante bleiben, aber das hält sie nicht
lange aus. So kommt es, dass sie sich auf die Suche nach ihrer
Großmutter macht, von deren Existenz sie bis jetzt nichts wusste.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die mit dem Titel
„Zusammen allein“ treffend beschrieben ist. Trotzdem oder gerade
deshalb beschließt Agnes, in Rumänien zu bleiben. Hier fühlt sie sich
zuhause, auch wenn die Verhältnisse alles andere als angenehm sind.
Mit eindringlicher Sprache schildert Karin Bruder große
gesellschaftliche und kleine private Entwicklungen, bei denen Agnes
immer weitere Teile ihrer Familiengeschichte aufdeckt. So entwickeln
sich sich Liebe, Angst aber auch Hoffnung im Schatten der grausamen
CeauSescu- Diktatur, und nie fühlt sich der Leser mit dem Schrecken
völlig allein. Dieses Buch könnte eine hervorragende Ergänzung im
Geschichtsunterricht zum Ende des kalten Krieges Ende des Jahres 1989
sein... jps
Die Nackten
Iva Prochátzková
264 S.
Sauerländer
Auswahlliste DJLP 2009
Jugendjury-Auswahl DJLP 2009
Fünf junge Menschen erleben einen heißen Sommer, jede/r von
ihnen mit seiner Geschichte, seiner Unfertigkeit, seiner Suche. Sie
treten hinein oder hinaus aus dem Leben der anderen, kennen sich,
lernen sich kennen, stellen sich selbst vor, sind Ich-Erzähler
oder wechseln als Protagonisten in eine andere Episode. Sylva ist eine
dieser Fünf, ein Mädchen, das sich als Hochbegabte in der
Schule langweilt und sich nicht unterordnen will. Sie schwänzt
tagelang und bewegt sich auf langen Wanderungen durch die Natur. Filip
ist in Sylva verliebt, merkt das aber erst nach ihrem Weggang. Als
Gegenmittel gegen seine verkopfte Art verordnet er sich
körperliche Arbeit und lernt so ein anderes Mädchen kennen,
in das er sich später verliebt. Niklas kennt Sylva von
früher. Da wollte er noch Filme machen, aber nun hat er die
bildschöne Evita kennengelernt, und folgt ihr fasziniert in die
Drogenszene. Und Robin, der gegen die Übermacht seines Vaters
kämpft, ist von der Schule geflogen, weil er angeblich auf einer
Klassenfahrt ein Mädchen vergewaltigt hat – doch die Sache ist
etwas komplizierter.
Die Beziehungen – die der Jugendlichen
untereinander und die zu den Erwachsenen – sind es, die die
eigentliche Hauptrolle im Prozess des Erwachsenwerdens spielen. Iva
Prochátzková lässt es Sylvas Vater zusammen fassen : “Die
Pubertät ist ein eigenartiger Zustand. Nicht wiederholbar. In der
Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles
direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich. […]
Erst wenn du älter wirst, beginnst du dich anzuziehen.”
Lebhaft gestaltete Charaktere, die Radikalität der Jugendlichen
im Tun und Denken, die Gefahr und das Bewusstsein davon: das Leben als
eine Kette von Herausforderungen. Beim Lesen sind mir meine eigenen
Gedanken, Gefühle und Radikalitäten wieder eingefallen.
Nicht immer angenehm! Aber auch darüber hinaus eine tolle
literarische Leistung. Jps
Wintereis
Peter van Gestel
334 S.
Beltz & Gelberg
Auswahlliste DJLP 2009
Thomas, der Ich-Erzähler,
ist 1947, als er diese Geschichte erzählt, 12 Jahre alt. Er zeigt
uns das bitterkalte Amsterdam, das unter einem dicken Mantel aus
Wintereis begraben liegt, man spürt die Kälte, den Hunger
und den Nachhall des Schreckens in der Welt. Alle sind traumatisiert
und vermissen jemanden; Thomas´Mutter ist direkt nach dem Krieg an
Typhus gestorben, Zwaan, sein Freund, ist Jude und hat beide Eltern
verloren. Sie wurden deportiert und ermordet, er lebte „untergetaucht“
über ein Jahr in einem Versteck. Inzwischen ist Zwaan bei seiner
Tante und deren Tochter Bet untergekommen, auch Bets Vater wurde als
Kommunist ermordet. Bet versteht sich nicht sonderlich gut mit ihrer
Mutter, Tante Jos, versucht aber, die psychisch labile Frau so gut es
geht zu schonen. Denn Tante Jos verhält sich mindestens
merkwürdig, was sich im Verlauf der Geschichte noch steigert.
Trotzdem erlaubt sie, das Thomas eine Weile im Haus seiner Freunde
lebt, wo er sich zögernd seine Verliebtheit in Bet eingesteht.
Die Geborgenheit und Freundschaft, die die drei Kinder verbindet, gibt
ihnen Kraft und Halt, lässt sie miteinander sprechen und
irgendwann auch das Wintereis schmelzen. Und beiläufig wird
sowohl ein Stück Zeitgeschichte nachvollziehbar gemacht als auch
vom Schicksal der niederländischen Juden berichtet Van Gestel
schafft in Wintereis eine dichte, poetische, raue und zärtliche
Sprache, besonders stark sind die Dialoge. Ein grandioses Buch! Jps
Die Bücherdiebin Markus Zusak
587 S.
cbj, 2008
Jugendjury-Auswahl DJLP 2009
Darf man über das
schrecklichste Kapitel deutscher Geschichte Witze machen? Der Tod darf
das. Wer, wenn nicht er? "Ich frage mich wirklich, ob nicht irgendwann
irgendwo beim Hitlergruß jemand einmal ein Auge verloren oder
sich die Hand oder den Arm gebrochen hat. Man musste doch bloß
zur falschen Zeit in die falsche Richtung schauen oder zu nah vor
jemandem stehen." Der Tod ist aber auch ein Poet, der zärtliche
Worte für die Menschen findet, deren Seelen er "auf das
Förderband zur Ewigkeit" legt. Er ist es auch, der uns fasziniert
die Geschichte von Liesel Meminger erzählt. Das kleine
Mädchen stiehlt Bücher, um sich und andere mit ihnen zu
trösten, während die Welt um sie herum untergeht. Am Grab
ihres Bruders klaut sie das erste Buch. Es ist dem Totengräber
aus der Tasche gefallen. Später wird sie ihr Pflegevater mit dem
Handbuch "Wie man ein guter Totengräber wird" das Lesen lehren
und in ihr die Liebe zum geschriebenen Wort wecken. Er tröstet
sie auch, wenn sie des Nachts vom toten Bruder und der vermissten
Mutter träumt. Liesel klaut alle Bücher, die sie nur kriegen
kann, und teilt ihr Leseerlebnis mit anderen, die ebenfalls nach
geistigen Fluchten lechzen: mit ihrem Freund Rudi, den Nachbarn im
Luftschutzkeller und dem Juden Max, den ihre Zieheltern verstecken.
Damit ist "Die Bücherdiebin" von Markus Zusak, einem
Australier mit deutsch-österreichischen Wurzeln, dann auch weit
mehr als eine weitere bewegende Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg:
Eine Hommage an Bücher und an die Macht der Sprache, die Seelen
retten kann. Und ein Buch, das nicht nur Jugendliche beeindrucken
wird, sondern auch Erwachsene - weil sich in ihm das Schwere mit dem
Leichten verbindet, ohne je bemüht oder banal zu wirken. Denn
auch in seinem neuen Werk zeigt die Sprache des für sein Buch
"Der Joker" mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis gekürten
Autors wieder ihren Facetten-Reichtum. Neben Poesie und Ironie ist es
hier vor allem der lakonisch-distanzierte Ton des Erzählers. Nur
manchmal muss man über seinen Redefluss hinweglesen, um die
ausdrucksstarke und bildhafte Sprache genießen zu können.
*ag* Heike Byn, Quelle: 1001 Buch
Road of the Dead
Kevin Brooks
352 S.
dtv
Auswahlliste DJLP
2009
Bei diesem Buch hatte ich ein
„Ja-aber-Gefühl“, das auf Seite 1 begann und bis zum Ende immer
stärker wurde. Ja, es ist ein brutales Buch, aber es ist gut
geschrieben; ja, der Plot ist sehr unglaubwürdig, aber es ist
spannend; ja...aber, ja...aber.
Die Art, in der Gewalt
behandelt wird, erinnert mich an Tarantino-Filme: exzessiv, explizit
und immer irgendwie als Chiffre. Insgesamt ist mir die Story zu
verschroben angelegt. Eine junge Frau wird ermordet, ihr jüngerer
Bruder empfängt Signale, sein älterer Bruder fühlt sich
berufen, den Mord auf eigene Faust auf zu klären, die Mutter
lässt ihn ziehen und schickt den jüngeren Bruder noch
hinterher. Es wird viel geahnt und am Ende werden die rabiaten
Ermittlungsmethoden scheinbar bestätigt, aber im Grunde bleibt
die Geschichte rätselhaft. Ja. Aber dann bieten sich immer wieder
interessante Aspekte, die das Buch lesenswert machen: die Geschichte
der ungleichen Brüder, die psychologisch sehr ausgearbeitete
„Typen“ Abbie, Vince und Jess... MS
Wie man unsterblich wird Sally Nicholls
200 S.
Hanser
Verlag
Jugendjury-Auswahl DJLP 2009
Ein
11jähriger Junge, Sam, ist an Leukämie erkrankt. Seine
Chancen, länger als ein Jahr zu leben, stehen sehr schlecht. Er
hat einige Kranken-hausaufenthalte mit Chemotherapie hinter sich, im
Moment ist er jedoch zu Hause. Mit seinem ebenfalls an Krebs
erkrankten Freund Felix, der im Rollstuhl sitzt, nimmt er
Privatunterricht bei Mrs. Willis. Sam und Felix haben sich erst im
Krankenhaus kennen gelernt. Sie verbringen viel Zeit miteinander und
haben immer wieder Unsinn im Kopf und stellen das ein oder andere an.
Mrs. Willis ist eine ziemlich ungewöhnliche Lehrerin und
sie und die beiden Jungen haben oft Spaß miteinander. Eines
Tages gibt die Lehrerin ihren beiden Eleven den Auftrag, eine Liste
von Dingen zu erstellen, die sie gerne tun oder erleben möchten.
Die beiden sind gleich Feuer und Flamme. Auf Sams Liste finden sich
sowohl leichter realisierbare Dinge wie eine Rolltreppe, die nach
unten fährt, hinaufzugehen, aber es sind auch schwer umzusetzende
Sachen darunter: z.B. mit einem Luftschiff fliegen.
Felix
drängt Sam dazu, diese Dinge Realität werden zu lassen. So
verändert die Liste einiges im Leben der beiden und Sam hat
wieder ein Lebensziel. Auch wenn es Sam nicht gerade gut geht,
versucht er, mit Hilfe von Freunden und Familie, eines nach dem
anderen um zusetzen.
„Wie man unsterblich wird“ ist ein Buch, das ein sehr schweres
Thema hat und dennoch Lebensmut vermittelt. Es zeigt, wie stark Kinder
sind und wie vorbildlich und tapfer sie mit ihrem Schicksal umgehen.
Es ist herz-erfrischend und einfühlsam geschrieben, ähnlich
wie ein Tagebuch und es stellt zur gleichen Zeit wichtige Fragen.
„Wie man unsterblich wird“ ist nicht umsonst ein preisgekröntes
Buch.
Das Ambulantes Kinderhospiz München, für das
ich als ehrenamtliche Familienbegleiterin tätig bin, hat einen
wunderbaren Leitspruch: „Die Tage mit Leben füllen, anstatt das
Leben mit Tagen“ In diesem Sinn empfehle ich Erwachsenen wie auch
Kindern „Wie man unsterblich wird“ zu lesen. DS
Ich, Adrian Mayfield Floortje Zwigtman 510 S.
Gerstenberg
Verlag
Jugendjury-Auswahl DJLP 2009
Dieses Buch
hat mich erstaunt und begeistert. Von Anfang an schafft es die
Autorin, eine dichte und glaubwürdige Atmosphäre zu erzeugen
und bis zum Ende des Buches durchzuhalten. Das London des fin de
siecle ist mit den Händen zu greifen, zu schmecken, zu riechen
und zu erfahren.
Es interessiert mich nicht, ob jeder
Handlungsstrang notwendig, jedes kleine Detail erwähnt, jede
aufwändig recherchierte Absonderlichkeit dieser an
Absonderlichkeiten reichen Zeit erwähnt werden muss. Es ist
nämlich bei all dieser emsigen Fleißarbeit ein enorm
spannender, kluger und unterhaltsamer Roman. Es ist faszinierend, wie
sich Floortje Zwigtman in einen jungen Mann, einen schwulen jungen
Mann aus der Unterschicht im viktorianischen London hineindenken kann.
Die Gefühle werden bis in die körperlichen Empfindungen und
Reaktionen so präzise beschrieben, dass man als männlicher
Leser geradezu irritiert ist.
Adrian Mayfield ist
unser Held. Wir fühlen mit ihm, wir bangen und hoffen mit ihm.
Aber er ärgert uns auch mit seinen Eskapaden und seinem
Dickschädel. Aber das macht ihn uns auch so ähnlich und
deswegen lassen wir uns willig in seine Abenteuer hineinziehen. Wir
spüren wie er die Ungerechtigkeit der Klassenschranken, der
ungleichen Bildungs- chancen und die familiären Spannungen. Sein
Streben nach Anerkennung und seine Suche nach der Liebe sind zwar ganz
in den Bedingungen seiner Zeit verankert, aber doch so universell,
dass man/frau beim Lesen mühelos selber zum Suchenden wird. Das
ist für mich der Schlüssel zu einem faszinierenden Buch. Ich
fasse dieses Buch nicht primär als Jugendbuch auf. Der Schatten
des Scheiterns, der über der Handlung liegt und das
Einfühlen in die Schwierigkeiten eines Jugendlichen, der seine
Homosexualität entdeckt in einer Zeit, in der dies als kriminell
und krankhaft abgestempelt wurde, verlangen vielleicht zuviel
Transferleistung, zumal von Jugendlichen, die mit ihrem eigenen
Standpunkt zu kämpfen haben. Aber andererseits: vielleicht kennen
sie genau diese Gassen und Sackgassen, in denen Adrian die Richtung
für sein Leben sucht. MS
Nick & Norah
Rachel Cohn /David Levithan
216 S.
cbt
(erstmals 2007 bei cbj erschienen)
Auswahlliste DJLP 2008
Jurybegründung AKJ: Aus
fünf Minuten werden sieben und dann verbringen Nick und Norah
eine Nacht, in der sie sich verlieren und wieder finden, entfremden
und neu entdecken. Der Bassist einer Band und die Tochter eines
Musikproduzenten lernen sich in einem Club in New York kennen. Sie
entdecken die Stadt bei Nacht, finden dabei auch zu sich selbst und
verarbeiten ihren Liebeskummer. Beide sind hin und her gerissen
zwischen ihren Gefühlen und der Angst, sich neu zu verlieben.
Doch entgegen jedem traurigen Song siegt die Liebe. Die Geschichte
wird abwechselnd von den zwei Autoren erzählt und erschafft ein
realistisches Bild. Die Atmosphäre, geprägt von der
größten Leidenschaft der Personen - der Musik -, verzaubert
den Leser für eine Nacht. Ein Buch mit mehr Stoff als jeder
Songtext und für jeden Musikgeschmack. Ab 14
Aus zwei Perspektiven ist dieses packende Beziehungsgeflecht
konstruiert:
Nick, der die Trennung seiner Ex-Freundin Tris
von ihm nach drei Wochen noch nicht wahrhaben will, ist Bassist in
einer New Yorker Punkband und sieht sich bei einem Gig plötzlich
mit seiner Ex und dessen neuem Freund konfrontiert. Ihm fällt
nichts anderes ein, als ein Mädchen in seiner Nähe darum zu
bitten, für die nächsten 5 Minuten seine Freundin zu
spielen. Dieses Mädchen, Norah, ist eine ebenfalls
musikbegeisterte junge Jüdin, deren Vater ein namhafter
Musikproduzent. Sie kennt sich gut aus in der Club-Szene und ist im
Moment damit beschäftigt, ihr bisheriges Leben in jeder
erdenklichen Form in Frage zu stellen, denn auch ihre Beziehung zu
ihrem Freund Tal befindet sich in einer schwierigen Phase.
Norah lässt sich auf Nicks 5 Minuten-Angebot ein und so beginnt
eine turbulente, romantische aber auch tiefsinnige Reflektion beider
Protagonisten über ihre eigenen, verwirrten Gefühle,
über das Leben in New York und über seine Musikszene.
Über allem steht das Thema Freundschaften und Liebe, das
Bedürfnis, heraus zu finden, wer man ist und was man
möchte, welche Formen der Beziehungen zu und zwischen Menschen
aller sexuellen Präferenzen und vor allem die Liebe zur Musik.
Der
Joker
Markus Zusak
443 S.
Cbj-Verlag 2006
DJLP 2007 Jugendjury
Jurybegründung AKJ:
Jeder Loser kann
die Welt verbessern! – Ed findet eine Spielkarte im
Briefkasten, mit drei Adressen und Uhrzeiten – Anstoß
für seine ersten drei Aufgaben. In weiteren Aufträgen
kreuzt Ed das Leben anderer Menschen. Einer alten, einsamen Frau
leiht er ein offenes Ohr, einem brutalen Familienvater führt er
die Gefühle des Opfers vor Augen. Er ändert nicht aktiv das
Leben der Anderen, sondern zeigt ihnen nur die Richtung. Nach und
nach öffnen sich auch ihm die Augen und er entdeckt in seiner
eigenen scheinbar heilen Welt Risse und Sprünge.
Den
Helden auf seinem Weg zu begleiten, ist ein aufregendes Abenteuer.
Skurrilironisch-komische Abschnitte wechseln sich ab mit
erschütternden und nachdenklich machenden Etappen. Zusak spricht
viele verschiedene Themen an und lässt den Leser zusammen mit Ed
in zahlreiche unterschiedliche Milieus eintauchen. Diese Episoden
fügen sich wie von selbst zu einer unglaublichen, aber dennoch
authentischen Story zusammen. Hinzu kommt der geniale Stil des
Autors. Durch geschickte Wortwahl lockt er den Leser hin und wieder
auf falsche, teils grausige Fährten, so dass man sich in einem
Strudel aus Realität und Fiktion wiederfindet. Ab 13
Vier Freunde, einer davon der Ich-Erzähler Ed, befinden sich in
einem Zustand relativer Antriebslosigkeit. Egal, ob sie Arbeit haben,
oder nicht, sie haben sich in ihrem Dasein eingerichtet und spielen
regelmäßig miteinander Karten. Bis eines Tages zwei der 4
in einen Banküberfall verwickelt werden, durch den die
Öffentlichkeit auf Ed aufmerksam wird. Jetzt beginnt eine neue
Zeit für Ed, denn irgendjemand schickt ihm Spielkarten, Asse,
mit Aufgaben, denen er sich stellen will oder muss. Indem er diese
Herausforderungen annimmt, lernt er sich, seine Freunde und seine
Mitmenschen neu kennen und beginnt, echtes Interesse zu entwickeln.
Er wächst an seinen Aufgaben als Freund, als Mensch und als
Mann. Eine Frage, die sich wohl zurzeit viele junge Leute stellen:
was hat das alles mit mir zu tun? Die Idee, sich mal in seiner
näheren Umgebung umzuschauen, die Menschen zu BEACHTEN, die da
leben und ihnen vielleicht ein wenig zu helfen, dazu muss man
eigentlich nicht erst eine Spielkarte zugeschickt bekommen. Aber wenn
es hilft, kann man ja dieses Medium benutzen. Und Aufgaben verteilen,
die vielleicht innerhalb der Gruppe etwas voran bringen?!
Wir retten Leben,
sagt mein Vater
Do van Ranst
160 S.
Carlsen Verlag
DJLP 2007
Jurybegründung AKJ:
Wie auf einer
Bühne ordnet der Autor seine Figuren vor einer seltsamen Kulisse
an: Da ist die Großmutter, die seit dem Tod ihres Mannes nicht
mehr spricht, die Eltern der Erzählerin, die ihre Ehe
verdrießlich aussitzen, und die 15-jährige
Ich-Erzählerin selbst, die auf den Märchenprinzen wartet.
Nicht zu vergessen deren Freundin Sue, die vergeblich, aber
dafür umso intensiver liebt. Sie alle sind um das kleine Haus am
Ende der Straße drapiert, die nach einer scharfen Kurve in
einer halben Brücke mündet. Wohin diese Brücke reicht?
Nach „Kein Ort, nirgends“ vielleicht oder direkt ins Land
der Sehnsüchte und Fortsetzungsgeschichten?
Do van
Ranst gelingt eine bestechend komische und originelle Fabel, die
Familiengeheimnisse und kompakte Lügengeschichten originell zu
skizzieren vermag. Seine familiäre Versuchsanordung ist eine
höchst amüsante und zugleich tiefgründige
Inszenierung. Sie versinnbildlicht nicht nur die Qualen des
Erwachsenwerdens, sondern auch die verkapselten Leidenschaften ihrer
pointiert gezeichneten Charaktere. Andrea Kluitmann hat den Text mit
leichter Feder aus dem Niederländischen übertragen. –
Ein fulminantes Familienstandbild, aus der Kurve geschossen.
Ab 13
Candy
Kevin Brooks
426 S.
Dtv
2006
Zwischen einem behütet aufwachsenden Jungen und einem
drogenabhängigen Mädchen, das anschaffen geht, entsteht
eine tiefe Beziehung, in deren Verlauf Joe erfährt, wie
hauchdünn die Grenze zwischen seiner und Candys Welt ist. Und
wie unüberwindlich tief der Abgrund dazwischen. Existenzielle
Erfahrungen von Gewalt, Abhängigkeit und Hilflosigkeit, von
Todesangst und Verzweiflung verändern ihrer beider Leben. In
dieser temporeichen Geschichte kommt alles so knüppeldick und
heftig, dass nur das Leben selbst solche Geschichten schreiben kann.
Dankenswerter Weise kein Happy-End – obwohl beide
Protagonisten über sich selbst hinauswachsen und mehr schaffen,
als eigentlich möglich ist.
Sehr empfehlenswert!
Lucas
Kevin Brooks
447 S.
dtv
DJLP
2006 JUgendjury
Jurybegründung AKJ:
Die
15-jährige Cait lebt mit ihrem Vater auf einer kleinen Insel.
Ihr Leben verändert sich schlagartig, als plötzlich Lucas
auftaucht; ein stiller und geheimnisvoller Junge, von dem niemand
weiß, wer er ist und woher er kommt. Cait ist vom ersten
Augenblick an von ihm fasziniert. Aber Lucas ist auf der Insel nicht
willkommen. Die Einheimischen misstrauen dem Fremden und lassen
nichts unversucht, um ihn von der Insel zu verscheuchen. Einzig Cait
und ihre Familie glauben an Lucas und versuchen, ihm zu helfen. Als
während eines Festes ein junges Mädchen schwer verletzt
aufgefunden wird, beginnt eine Hetzjagd auf Leben und Tod.
Es fällt nicht leicht, das Buch in eine Kategorie einzuordnen.
Die Geschichte handelt von Enttäuschung, Faszination, Angst und
Hoffnung. Brooks vermittelt einen intimen, einfühlsamen,
rührenden, aber dennoch faktisch klaren und klischeelosen
Einblick in die Gefühlswelt seiner Protagonistin. Besonders
erschreckend ist die unterschwellige Schilderung der Gewalt. Diese
Mischung aus Hoffen und Zweifeln macht den Text so stark. Lucas ist
ein bemerkenswertes Buch, das uns die tiefen Abgründe
menschlichen Verhaltens herzergreifend vor Augen führt. Ab 14
Lucas, ein seltsamer Junge mit einer besonderen Ausstrahlung, ist die
ideale Projektionsfläche für „das Fremde“. Er
ist frei, autonom, sein Gespür für Menschen und Tiere
lässt ihn gleichzeitig anziehend und gefährlich erscheinen.
Jedenfalls nehmen ihn einige Inselbewohner so wahr und es kommt mehr
und mehr zu einer Polarisierung. Ein ergreifendes Buch über
menschliche Abgründe.
Im Schatten
der Wächter
Graham Gardner
199 S.
Verlag Freies Geistesleben
DJLP 2005 Jugendjury
Jurybegründung AKJ:
"Der Zweck
der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die
Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht."
(George
Orwell, 1984)
Das ist das Motto für Richard,
den Anführer der "Wächter", denen es Spaß
bereitet, Macht über Mitschüler zu besitzen, diese zu
bestrafen und zu terrorisieren. Die Wächter bedienen sich dazu
einer Gruppe von Handlangern, zu denen der 15-jährige Elliot
gehört. Elliot war an seiner alten Schule drei Jahre das Opfer,
er wurde gequält, verfolgt und geschlagen. An seiner neuen
Schule erfindet er einen neuen Elliot, der sich cool, kaltblütig
und abgebrüht gibt und schließlich zum Auserwählten
der Wächter-Bande aufsteigt. Die neue Identität ohne Ecken
und Kanten wird Elliot zur zweiten Natur. Durch die Begegnung mit
Louise und Ben gerät Elliot immer mehr in Konflikt mit seiner
neuen Rolle, bis er schließlich seine schreckliche Angst
überwindet und den Sinn der Worte aus 1984 begreift: "Aus
freiem Willen tritt er dem System entgegen. Er gehorcht seinem wahren
Glauben und riskiert alles. Und damit befreit er sich selbst
..."
In seinem ersten Roman gelingt es Graham Gardner,
die Wandlungen der Hauptfigur überzeugend und glaubwürdig
darzustellen. Die Geschichte wird temporeich, kühl, spannend,
dicht, fesselnd und schonungslos offen erzählt. Ab 13
Elliot ist ein Opfer, ein Prügelknabe. Als er nun umzieht, in
eine neue Stadt und in eine neue Schule kommt, beschließt er,
seine alte Rolle abzulegen. Er unterzieht sich einer strengen
Selbstkontrolle, übt mit Kleidung, Haltung und Auftreten,
Unbeteiligtsein aus zu drücken. Denn er hat erkannt, dass nur
Coolsein schützt. Keine Angst darf nach außen dringen.
Nicht aufzufallen ist das Überlebenskonzept für Elliot.
Aber auch an der neuen Schule findet Gewalt statt. Dort gibt es eine
unsichtbare, aber umso effizientere Ordnungsmacht, die Wächter.
Sie schaffen mit ihrer Macht und systematischer Unterdrückung
eine Hierarchie in der Schülerschaft. Elliot beherrscht seine
coole Rolle inzwischen so perfekt, dass er selbst zu einem
Wächter erkoren wird. Aber dann muss er auch aktiv werden,
selbst Opfer auszusuchen, ihre Bestrafung festlegen und die
Täter wählen. Wird aus dem Opfer ein Täter, oder
findet er zu seiner persönlichen Stärke?
Gardners
Roman überzeugt durch die Beschreibung der bedrückenden
Atmosphäre in der Schule mit ihrem subtilen und effizienten
Unterdrückungs- und Machtsystem. Jugendliche kennen diese Formen
von
Ausgrenzung, Mobbing, Unterdrückung und das
Ausspielen von Macht. Das Buch kann sehr hilfreich beim Bearbeiten
von Gewaltthemen sein.
Eine wie Alaska
John Green
288 Seiten
Carl Hanser-Verlag 2007
Auswahlliste DJLP 2008
Jurybegründung AKJ:
Der
16-jährige Miles führt ein Leben ohne Freunde; er besucht
das Internat Culver Creek. Noch vor dem ersten Schultag kommt er
durch einen üblen Schülerstreich beinahe ums Leben. Er
freundet sich mit Colonel, Takumi, Lara und Alaska an und sie planen
den "besten Culver-Creek-Streich aller Zeiten". Miles
verliebt sich in die geheimnisvolle Alaska, deren sprunghaftes
Verhalten ihn jedoch überfordert. Irgendetwas stimmt nicht mit
ihr. Was verbirgt sie? Gerade als Miles glaubt, dass der lang
ersehnte erste Kuss alles ändere, geschieht das Unfassbare
...?John Green erzählt lebensnah aus Miles' Perspektive. Die
Geschichte um die erste Liebe, Abenteuer, Sehnsucht nach dem
Erwachsenwerden und der Frage nach dem Weg aus dem Labyrinth zieht
Mädchen und Jungen gleichermaßen in seinen Bann. Das Buch
ist spannend geschrieben und zeigt die besondere Tragik eines
außergewöhnlichen Mädchens, das Miles' Leben auf den
Kopf stellt.
In diesem Buch entscheidet sich der Protagonist Miles zum Aufbruch
ins Ungewisse. Auf der Grundlage eines sicheren und stabilen
Elternhauses wechselt das Einzelkind Miles in ein Internat. So will
er sich aus seiner Isolation befreien und das Leben in der
Gemeinschaft mit Gleichaltrigen aus-probieren. Jedoch hat gleich
seine erste Begegnung mit diesen Gleichaltrigen beinahe tödliche
Konsequenzen. Dann aber nimmt sein Zimmerkollege und dessen
Freundeskreis in herzlich auf, Miles` Hobby, „famous last
words“ auswendig zu kennen, verhilft ihm zusätzlich zu
Anerkennung. Das Mädchen Alaska, der Traum aller Jungen der
Schule, ist gerne mit ihm zusammen und obwohl sie außerhalb des
Internats einen Freund hat, entsteht zwischen den beiden eine
besondere Freundschaft.
Eindrücklich geschilderte
Lojalitäts- und Gruppen-Konflikte, Freundschaft und
Erwachsenwerden in einem schulischen Rahmen, der Individuen
fördert ohne auf Moral und Bildungsanspruch zu verzichten.
Running
Man
Michael Gerard Bauer
227 S.
Nagel &
Kimche, 2007
Auswahlliste DJLP 2008
Jurybegründung AKJ:
Eigentlich sollte
Joseph nur ein Porträt von dem zurückgezogen lebenden Tom
Leyton anfertigen. Doch durch seine vertrauensvolle Art öffnet
er das seit Jahren verschlossene Herz des alten Mannes mit jedem
seiner Besuche ein bisschen mehr. Schließlich kommt Joseph
hinter sein Geheimnis und bringt mit jedem Tag und Wort ein
Stück des "alten" Tom zu Tage. Tom zeigt Joseph die
faszinierende Kunst der Seidenraupenzucht und die beiden unterhalten
sich auch über den Running Man, der mit panisch angstverzerrtem
Gesicht durch die Stadt rennt, als wäre der Teufel hinter ihm
her. Seit Joseph denken kann, ist dieser Mann sein persönlicher
Albtraum. Doch Tom Leyton bringt ihn dazu, den Running Man zu
verstehen. Dieses Buch macht trotz des Schmerzes und der Tragik darin
glücklich und nachdenklich.
Der stille und in
sich gekehrte Joseph lebt mit seiner Mutter in einer australischen
Kleinstadt. Sein Vater arbeitet die meiste Zeit an weit entfernten
Baustellen und kommt nur zweimal im Jahr nach hause. Joseph vermisst
ihn und ist gleichzeitig wütend auf den abwesenden Vater. Durch
den schulischen Auftrag, ein gezeichnetes Portrait herzustellen,
macht der Junge die Bekanntschaft des Nachbarn, der mit seiner
Schwester völlig zurückgezogen lebt. Joseph muss sich
zunächst sehr überwinden, den Kontakt zu vertiefen, denn
der Nachbar ist noch verschlossener als er selbst und es kursieren
wilde Gerüchte über den Grund seiner
Zurückgezogenheit. Doch nach und noch eröffnet sich den
beiden eine gemeinsame Kontaktebene durch die Seidenraupenzucht des
alten Mannes und es entsteht eine tiefe und vertrauensvolle
Beziehung.
Kissing the rain
Kevin Brooks
448 S.
Nagel & Kimche, 2007
Auswahlliste DJLP 2008
Jurybegründung AKJ:
Alle Zutaten
für einen spannenden Kriminalroman sind hier vereint: ein
vertrackter Plot, ein sperriger Protagonist, der sich aller Sympathie
widersetzt, ein korrupter Polizeiapparat, brutale Gangster und
durchtriebene Rechtsanwälte. Der dicke Moo, eine
Vorzeige-Außenseiterfigur, auf die in der Schule täglich
böse Witze und Gemeinheiten niederprasseln, ist der
Erzähler und der gewichtige Spielball zwischen diesen Fronten.
Kevin Brooks entwirft ein böses, schwarzes Szenario
existenziellen Ausmaßes für seine Geschichte. Der
Kriminalroman entpuppt sich bei der Lektüre mehr und mehr als
Tragödie, menschlich und gesellschaftlich gesehen. Flüchtig
verschliffene Wörter und Sätze verdichten sich zu Moos
Bericht. In der deutschen Übersetzung bringt Uwe-Michael
Gutzschhahn den Text fulminant zum Klingen: Die erzählerische
Wucht und den emotionalisierenden Sog der Story packt er in eine
wortgewaltige Form.
Moo ist ein extrem übergewichtiger Jugendlicher, der hier in
seiner Sprache die Ereignisse zusammenfasst, die in dahin gebracht
haben, wo er jetzt ist.
In einer Rückblende, die dicht
und authentisch zwischen allen wichtigen Momenten, Orten und Zeiten
wechselt, analysiert er sein Leben, seine Beziehungen und die
Gründe für sein Fett-sein. Dabei geht er ehrlich und
schonungslos mit sich und anderen um und wird nicht zuletzt durch
seine Sprache zu einem Gegenüber, das für sich einnimmt.Ein
neuer Blickwinkel auf das Leben aus Moo´s Perspektive ist eine
der großen Chancen, die in dem Buch stecken. Die Sprache
transportiert die Gefühle des Jugendlichen, wird zum Rhythmus,
Verstärker und regt zur Nachahmung an.
Wenn er kommt, dann laufen
wir
David Klass
325 S.
Arena Verlag
Auswahlliste DJLP 2007
Jurybegründung AKJ:
Das Böse
existiert und ich habe es gesehen, direkt vor meinen Augen. Und das
Einzige, was man dagegen tun kann, ist, es wegzusperren.“
– Doch das Böse wegzusperren, das genau gelingt nicht.
David Klass entwirft eine moderne Kain-und-Abel-Konstellation, die
Thriller und psychologische Studie zugleich ist. Sie dreht sich um
Troy, der als Jugendlicher einen Jungen erstochen hat und nun
vorzeitig aus der Haft entlassen wird. „Dark Angel“
heißt das Buch im Original und bezeichnet treffend die Rolle,
die Troy in der Familie und vor allem für seinen jüngeren
Bruder einnimmt. Der Ich-Erzähler Jeff muss in der Konfrontation
mit Troy erkennen, dass dieser auch einen Teil seiner eigenen
Persönlichkeit darstellt. Klass siedelt seine spannend
inszenierte Geschichte in einer amerikanischen Kleinstadt an und
zeigt beklemmend die dort herrschende Doppelmoral und Enge. Er
wechselt gekonnt die Perspektiven, verunsichert seine Leser, die
nicht umhin können, auch Sympathie für den Bösen zu
empfinden, und entlässt sie mit einem unbestimmten und
beunruhigenden Ende. Die Übersetzung von Alexandra Ernst trifft
anschaulich den Stil und Tonfall. So gelingt es, ein großes
Thema durchzuspielen, das nicht nur in den USA eine brisante
Diskussion darstellt: Was ist das Böse? Ab 13
Paradiesische
Aussichten
Faïza Guène
144 S.
Carlsen
Verlag
Auswahlliste DJLP 2007
Jurybegründung AKJ:
Das mit dem
Schicksal ist sowieso völlig frustrierend, weil man nichts daran
ändern kann“, meint die 15-jährige Doria. Doch dass
das Leben sehr wohl auch PARADIESISCHE AUSSICHTEN birgt, das zu
erzählen gelingt Faïza Guène. Sie wurde 1985 geboren
– in dem Jahr, in dem der Kinofilm TEE IM HAREM DES ARCHIMEDES
die berüchtigten Banlieus von Paris über die Grenzen von
Frankreich hinaus berühmt machte. 20 Jahre später
wählt die Autorin den- selben Schauplatz für ihre
Erzählung. Sie fokussiert ihren Blick auf die Lebenswirklichkeit
einer marokkanischen Immigrantenfamilie. Wie „short cuts“
erscheinen die kurzen Kapitel, in denen die Ich-Erzählerin ihren
Mikrokosmos kartografiert. Die heranwachsende Heldin besticht nicht
allein durch ihre lakonisch-ironischen Kommentare, sondern auch durch
den punktgenauen Blick auf die sozialen Lebensumstände.
Während uns die medialen Bilder der brennenden Autos und der
eingeworfenen Schaufensterscheiben aus Frankreich noch deutlich im
Gedächtnis sind, liefert Guènes Text den Bodensatz
hierzu. In der meisterlichen und zeitgemäßen
Übersetzung von Anja Nattefort zeigt das Buch das beeindruckende
Porträt einer Generation. Ab 14
Ein reiner Schrei
Siobhan Dowd
316 S.
Carlsen Verlag
Auswahlliste DJLP 2007
Jurybegründung AKJ:
Der Mikrokosmos
eines irischen Dorfes im Jahre 1984: Hier lebt die 16-jährige
Shell mit ihrem trunksüchtigen Vater, einem fanatischen
religiösen Eiferer. Seit dem Tod der Mutter versorgt Shell auch
ihre beiden kleineren Geschwister. Ein bisschen Liebe sucht sie bei
Declan, einem Jungen aus ihrer Klasse; doch dieser macht sich aus dem
Staub und Shell bleibt allein zurück: schwanger. Unbemerkt
trägt Shell das Kind aus. – Eine zutiefst beklemmende
Geschichte, die schließlich noch eine weitere dramatische
Wendung von außen erfährt.
In ihrem Debüt
gelingt der irischen Autorin Siobhan Dowd eine bis in den
Hyperrealismus reichende, sprachlich dicht gewobene Milieustudie, die
der Übersetzer Salah Naoura stimmungsreich und eindrücklich
ins Deutsche übertragen hat. Dass diese Geschichte aus der
jüngsten Vergangenheit erzählt, wirkt verstörend.
Dennoch dreht sie sich wie das Riesenrad am Ende des Romans von ganz
unten wieder nach ganz oben. Und Shell ruft über den
Rummelplatz: „Welche Lust, zu leben, welche Lust.“ Ab 14
Die
Nacht, in der Mats nicht heimkam
Martha
Heesen
Verlag Sauerländer, 115 S.
Monsterwochen
Ron Koertge,
Carlsen Verlag, Hamburg 2004, 142 S.
Nominiert für den DJLP 2005
Ben Bancroft, der Ich-Erzähler, ist 16, Vollwaise, halbseitig
spastisch gelähmt und lebt bei seiner Großmutter. In der
Schule ist er ein Außenseiter. Seine Welt ist das Kino und
besonders die Filmwoche im heruntergekommenen Rialto-Lichtspielhaus,
in einem Vorort von L.A.
Als sich während eines Films
die ausgeflippte Colleen aus seiner Schule neben ihn setzt und im
Drogenrausch an seiner Schulter einschäft, beginnt sich für
Ben alles zu ändern. Die ungewohnt direkte Art, mit der Colleen
mit seiner Behinderung umgeht und sich ihm auch körperlich
nähert, verändert sein Leben grundsätzlich.
Natürlich ist Bens Großmutter mit dieser Bekanntschaft
nicht glücklich, zumal Colleen nicht nur alle möglichen
Drogen zu sich nimmt, sondern auch noch ein loses Mundwerk hat.
Koertges Roman besticht durch seinen unkonventionellen Umgang mit
Behinderung. Der Ich-Erzähler kommentiert witzig-flapsig die
ver-schiedenen Situationen, die sich aus seiner Behinderung ergeben.
Diese sprachliche und stilistische Direktheit, die Situationskomik
und die witzigen Dialoge machen die besondere Qualität dieses
Romans aus und bestimmen seinen Charakter.
Winterbucht
Mats Wahl
Verlag Beltz & Gelberg 2002, 304 S.
Simpel
Marie-Aude Murail
Fischer
Taschenbuch 2007, 300 S.
Auswahlbuch DJLP
2007
Der 17-jährige Colbert hat seinen Bruder Barnabé,
genannt Simpel, auf seine Verantwortung aus dem Heim für geistig
Behinderte geholt. Er erträgt es nicht, Simpel dort leiden zu
sehen. Jetzt kümmert er sich um ihn, so gut er kann, ist aber
natürlich häufig ziemlich überfordert. Simpel ist 22
Jahre, spielt mit Playmobil, spricht mit seinem Stoffhasen und denkt
sich Wörter in einer anderen Sprache aus. Dieses wunderbare Buch
von Marie-Aude Murail beschreibt nicht nur einfühlsam die
Erlebniswelt von Simpel, sondern zeigt auch eindrücklich die
gesellschaftlichen Tabus, die sich im Umgang mit geistig behinderten
Menschen in verschiedenen Facetten zeigen. Und in der liebevoll
gezeichneten Hauptfigur Simpel steckt eine ganze Palette von
Möglichkeiten, das Buch/Thema weitergehend zu bearbeiten. Eine
eigene Sprache erfinden, wie Simpel es tut, zu Beispiel. Oder
Monsieur Hasehase, dessen diabolische Einflüsterungen Simpel
immer wieder in Versuchung führen. Diese Gestalt wird sooft
zerschnitten, geflickt, gewaschen, gerubbelt, gedrückt oder
sonst wie zerstört, dass es sich anbietet, eine Hasehase-Collage
zu machen, vielleicht auch in einer Bildfolge, mit Textzitaten
Vorher/Nachher. Ein tolles Buch mit tollen Möglichkeiten
für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen!
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